Den Bürgersteig entlang schlurfende, brabbelnde Gestalten mit Bierflasche in der Hand sind ein alltägliches Bild. Gutes Geld mit Samt verdient hier niemand mehr.
Selbst für Krefelder Verhältnisse ist der Migrantenanteil hoch. Araber, Kurden, Türken der zweiten und dritten Einwanderergeneration und Russlanddeutsche haben sich oft in ganzen Familienverbänden in den Wohnungen der einstigen Textilfacharbeiter angesiedelt.
Gleichzeitig wohnt hier auch noch deutsch-bürgerliche Klientel. Man arrangiert sich, die Krefelder sind einiges gewohnt.
Ein Stadtteil auf der Kippe.
Und mittendrin eine leerstehende, vor sich hin rottende Textilfabrik aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die vom Ruhm Krefelds als Hauptstadt der europäischen Samt- und Seidenindustrie kündet.
Die Stoffe haben zumindest die Seidenbarone aus der Familie von-der-Leyen reich und berühmt gemacht, deren pompöses Stadtschloss im Stil des Weißen Hauses die Krefelder Stadtverwaltung inzwischen als geräumiges Rathaus nutzt.
Denn im Komplex Alte Samtweberei hat eines der spannendsten Umbau-Projekte begonnen, die Krefeld zu bieten hat. Der neue Besitzer, die Montag-Stiftung Urbane Räume, treibt ein ambitioniertes Konzept voller idealistischer Ziele voran: Ein Leuchtturmprojekt mit Impulsen für den ganzen Krefelder Südwestbezirk mit einem Volumen von rund sieben Millionen Euro.
Seit Mai 2014 wird die Infrastruktur im ehemaligen Verwaltungsbau aus der Nachkriegszeit, dem Pionierhaus, wieder in Schuss gebracht. 1000 Quadratmeter Büroflächen stehen hier 25 bis 30 kreative Nutzern zur Verfügung: Agenturen, Selbstständige, Gründer etc.
Die Stiftung will lediglich 3 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter verlangen (selbst in Krefeld konkurrenzlos günstig). Die Eröffnung des Pionierhauses fand schließlich im September 2014 statt.
Für gut die Hälfte der Flächen gibt es bereits Bewerber.
Die verstaubten von Holz-Einbauschränken und Registraturen strotzenden Büros der Offline-Ära sahen bei meinem Besuch im Frühjahr aus wie eine Bürokratenburg der Adenauerzeit – allerdings nach dem Sturm durch ein Spezialeinsatzkommando.
Überall Markierungen mit Klebefolie, mitten in den Räumen rot-weißes Absperrband. Das ist nicht weiter verwunderlich: Nach Auszug der Verwaltung trainierte die Polizei in den altmodischen Büros.
Dieser Teil der Samtweberei präsentiert sich im Rohbau mit freigelegtem Ziegel-Mauerwerk und großen Fenstern. Vom Zuschnitt her ist hier vom geräumigen Studenten-WG-Loft bis zu kleinen Seniorenwohnungen alles möglich.
Architekten dürften sich angesichts dieser Flexibilität die Finger lecken.
Für Freunde der Gentrifizierung durch Einzug verbsnobter Edel-Mieter ist das Ganze sicher eine Horrorvorstellung, denn die Stiftung ist nicht auf maximalen Profit, sondern auf Nutzen für die Nachbarschaft durch Durchmischung und Bürger-Engagement aus.
Regelmäßige Versammlungen der Nachbarschaft, bei denen Ideen entwickelt werden, gibt es auch schon.
Interessant wird die Frage, was mit den riesigen Shed-Hallen im Innenhof passiert – einer geräumigen ehemaligen Quartiersgarage. Das Dach ist noch intakt, wie Henry Beierlorzer vom Projektbüro betont.
Mitte März 2014 gab es beim Stadtspaziergang der Krefelder Grünen erstmals eine Führung durch den Komplex.
Die Montag Stiftung Urbane Räume hatte auch das umfangreiche Planungs- und Nutzungskonzept als PDF online gestellt.
Aktuelle Informationen zu dem Projekt gibt es auf der Seite Nachbarschaft Samtweberei.
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