Wer es liebt, sich wie ein lebendiger Bassreflexkörper zu fühlen, der stellt sich am besten vor eine möglichst mannshohe Lautsprecherbox der nächsten gut ausgestatteten Vorort-Disco und wartet auf Metallica, Iron Maiden, etc.
Oder er fährt nach Burg Greifenstein (Lahn-Dill-Kreis in Hessen). In den mächtigen, unterirdischen Gewölben des dortigen Geschützturms Rossmühle findet sich eine Glockensammlung. 900 Jahre Glockengeschichte sollen hier dargestellt werden – und man darf fleißig selber den Klöppel schwingen, was speziell bei Kindergruppen beängstigend gut ankommt.
Für das Museum mit seinen 50, größtenteils funktionsfähigen Klangkörpern ist kaum ein anderer Standort denkbar, denn drinnen herrscht in der Regel infernalischer Lärm. Aber die Mauern aus dem 17. Jahrhundert bieten die perfekte Schallisolation. (Mein Besuch fand 2009 statt. 2010 wurde ein Großteil der Glocken entfernt, siehe den Nachtrag.)
Doch die Burg hat noch mehr zu bieten, einiges sogar doppelt…
Die Anfänge der Burg mit dem charakteristischen, weithin sichtbaren Doppelturm reichen ins 12. Jahrhundert zurück (erste Erwähnung 1160). Die Festung an Kölner Heerstraße (Frankfurt-Köln) und über dem Dill-Tal war den benachbarten Nassauer und Solmser Grafen ein Dorn im Auge. 1298 gelang es ihnen, sie zusammen mit mehreren Reichsstädten einzunehmen und arge Zerstörungen anzurichten.
Die Nassauer und die Grafen von Solms-Burgsolms entscheiden sich schließlich, dass es keinen Sinn macht, an dieser Stelle nur über eine Ruine zu herrschen, und bauen die Anlage 1381 wieder auf.
Viel prächtiger als bisher. Aus dieser Zeit stammen auch die beiden miteinander verbundenen Bergfriede (Nassauerturm mit rundem und Bruderturm mit spitzem Dach).
Der Doppel-Bau lohnte sich – seitdem ist die Burg nie wieder eingenommen worden, auch nicht im Dreißigjährigen Krieg.
Immer wieder drohte die Anlage zu verfallen, wurde aber noch rechtzeitig ausgebessert (etwa 1470). 1602 folgt ein weiterer Festungs-Ausbau. 1676 baut der Solms-Braunfelder Landesherr Graf Wilhelm II. die Burg im Barock-Stil um und errichtet auch die Barockkapelle.
Eine Belagerung durch die Franzosen unter Turenne scheitert 1686 – der Sage nach an einer Wette. Die schlauen Greifensteiner hätten Marschall Turenne die Übergabe angeboten, wenn er es denn schaffe, an jedem Tor der Burg einen Schoppen Wein zu trinken. Nach sieben Schoppen sei der Belagerer dann zusammengebrochen, und die Burg blieb unbesetzt…
Doch wenige Jahre später, 1693, stirbt die Solms-Braunfelser Linie aus. Und der neue Braunfelser Landesherr hat kein Interesse an einem kostspieligen Barock-Schloss.
Er lässt die Gebäude verfallen. In den umliegenden Dörfern findet man das gar nicht so schlimm, schließlich lässt sich in der Ruine kostenlos Baumaterial gewinnen.
Bis 1809 hatte der während der Barock-Umgestaltung errichtete „neue Bau“ sogar noch ein Dach. Heute sind nur noch Reste übrig.
Aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte die Anlage erst 1969(!). In diesem Jahr schenkte Graf von Oppendorf die Ruine dem Greifenstein-Verein. Der Verein sammelte reichlich Spenden und kümmert sich bis heute vorbildlich um den Erhalt der Burg.
1984 bis 2010 beherbergte der alte Geschützturm Rossmühle das Deutsche Glockenmuseum (heute Gescher, siehe Nachtrag). Seit 1995 steht die Burg in der Denkmalliste als „Denkmal mit nationaler Bedeutung“. Wer keine Angst vor Treppen hat, kann auch den Bruderturm erklimmen und von oben die Aussicht über das Greifensteiner Land genießen.
Eine Besonderheit der Baugeschichte ist die doppelte Kapelle. 1462 entstand zunächst die St. Katharinen-Kapelle als massive Wehrkirche im gotischen Stil. Die Grafen hatten eine eigene Loge, um auch bei der Messe ihre besondere Stellung zu betonen. Im Zuge des Barock-Umbaus passte das Gotteshaus jedoch nicht mehr ins Bild.
Da man sowieso gerade dabei war, im Burghof Erde aufzuschütten, wurde die Kapelle (bis auf die Fenster) schlichtweg begraben. Die neue Barockkirche, 1682.1702 erbaut, ist mit reichlich verspielten Fresken ausgeschmückt. Der Burgführer hat allein 72 Engel und Putten gezählt.
Die Kirchen sind durch eine Treppe miteinander verbunden. In der oberen, der Schlosskapelle, finden auch heute noch häufig Trauungen und jeden Sonntag ein Gottesdienst statt. Bei Trauungen ist sie natürlich für die Öffentlichkeit gesperrt.
Aus der unteren Kapelle kommt man in die gemauerten Katakomben, die den Burgberg durchziehen. Einen Gefängnisraum mit einigen Foltergeräten gibt es (am Burghof) übrigens auch.
Nachtrag Dezember 2012: Das ursprünglich auf Burg Greifenstein beheimatete Deutsche Glockenmuseum musste 2010 die dort angemieteten Flächen räumen. Es ist nach Gescher (Westfalen) umgezogen ins Heinrich-Hörnemann-Haus, Lindenstraße 2.
Offenbar befinden sich heute weiterhin einige Glocken in den Gewölben von Greifenstein, diese Sammlung darf sich aber nicht mehr „Deutsches Glockenmuseum“ nennen.
Ansonsten hat Greifenstein auch noch ein Burgrestaurant zu bieten.
Einen neun Minuten langen Film über Burg Greifenstein gab es beim Hessischen Rundfunk (als „Hessentip“) zu sehen. Darin unternimmt Michael Folkwein vom Greifenstein-Verein einen Rundgang durch die Anlage und erzählt Geschichten. Freundlicherweise hat jemand den Film bei YouTube eingestellt. Sehr empfehlenswert:
Lage: Burg Greifenstein, Talstraße 19, 35753 Greifenstein
Fotos: Meine (Anklicken zum Vergrößern)
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Der Doppelturm erinnert mich sehr an die Burg Parsberg.
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