Es war im Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)

Screenshot aus dem Youtube-Video von Kettcar.
Die Fluchtwelle von DDR-Bürgern im Sommer 1989 und der Sturz des SED-Regimes im Herbst haben in der Popmusik eher wenig Widerhall gefunden. Und wenn, dann kamen so pathetisch-kitschige Stücke wie „Wind of Change“ von den Scorpions heraus (geschrieben im September 1989), nicht zu reden vom unseligen David Hasselhoff („I’ve been looking for Freedom“).

Unvergessen die ewig gleiche getragene Hintergrundmusik, die Spiegel-TV unter die Bilder von der unfreiwilligen Maueröffnung am 9. November 1989 mischte („Zeitenwende“).

Umso überraschender für mich, dass jetzt – 27 Jahre später – die Hamburger Band Kettcar mit einem Song und einem Video zu dem Thema um die Ecke kommen, das mir ein „wow“ entlockt. Titel: „Sommer 89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“.



Von Hamburg ins Burgenland

Erhaltenes Stück Grenzzaun zwischen Österreich und der Tschechei / Foto: Wikipedia / Pudelek / CC-BY-SA 3.0
Erhaltenes Stück Grenzzaun zwischen Österreich und der Tschechei / Foto: Wikipedia / Pudelek / CC-BY-SA 3.0

Der Fünf-Minuten-Clip handelt von einem jungen Hamburger, der sich am 12. August 1989 in seinen himmelblauen Ford Taunus setzt und quer durch Westdeutschland und Österreich an die ungarische Grenze zum Burgenland fährt.

Dort durchschneidet er an einem zuvor festgelegten Treffpunkt den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs. Drei Familien – insgesamt 13 DDR-Bürgern – gelingt die Flucht in den Westen.

Per Bus geht es dann zur Botschaft der Bundesrepublik nach Wien.

Zurück in Hamburg gibt’s erstmal Ärger in der WG. Die Mitbewohner finden die Fluchthelfer-Aktion zwar menschlich verständlich, aber politisch falsch, schließlich destabilisiere jede Flucht die taumelnde DDR. Und wenn das so weitergehe, sei die Deutsche Einheit unausweichlich.

Einheit als Horrorvision

Für viele aus der linksalternativen Szene war eine erneute deutsche Einheit im Sommer 89 eine Horrorversion.

Man stellte sich eine Art neues Großdeutschland vor, regiert von Deutscher Bank, Rüstungskonzernen und Helmut Kohls christlicher Union, das zwangsläufig Europa dominieren müsste.

Der Protagonist („Ihr wisst, dass das Schwachsinn ist!“) ergreift vor so viel Unsinn die Flucht. Ende.

Nein, nicht ganz. Danach fasst der Song noch zusammen, wofür die Flüchtlinge durch den ungarischen Stacheldraht geklettert sind. Eine Aufzählung, die durchaus der Realität nahe kommt:

„Für Grundgesetz und freie Wahlen.
Für Immobilien ohne Wert.
Sie kamen für Udo Lindenberg.
Für den VW mit sieben Sitzen. Für die schlechten Ossi-Witze.
Sie kamen für Reisen um die Welt.
Für Hartz IV und Begrüßungsgeld.
Sie kamen für Besser-Wessi-Sprüche.
Für die neue Einbauküche.
Und genau für diesen Traum schnitt er Löcher in den Zaun.“

Das Paneuropäische Picknick endete mit der Flucht von 700 DDR-Bürgern / Foto: Wikipedia / Wik1966total / CC-BY-SA 3.0
Das Paneuropäische Picknick endete mit der Flucht von 700 DDR-Bürgern / Foto: Wikipedia / Wik1966total / CC-BY-SA 3.0

Ungarn war gabz vorn

Die Parallelen zur aktuellen Flüchtlingssituation sind deutlich. Schmerzlich, die Erinnerung, dass ausgerechnet Ungarn damals Grenzen durchlässig werden ließ (erinnert sei an das Paneuropäische-Picknick am 19. August 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze bei Sopron, das 700 DDR-Bürger zur Flucht nutzten).

Während Ungarn heute unter Viktor Orban stramm in Richtung eines autoritär regierten Staates läuft und beim Thema Flüchtlinge mit der EU im Clinch liegt.

Ich kann mich noch gut an die Fernsehbilder der Grenzflüchtlinge erinnern. An die Soldaten, die demonstrativ den Stachdeldraht an der Grenze zu Österreich durchschnitten, ungeachtet der tobenden Regierung in Ostberlin.

Dann die Botschaftsflüchtlinge in Budapest und Prag und die Zugafahrt der „ausgewiesenen“ DDR-Bürger in verplombten Wagen über den Dresdner Hauptbahnhof (was dem SED-Regime auf dem Bahnhofsvorplatz die erste Straßenschlacht seit 1953 einbrachte).

Der Song bringt viele Bilder wieder hoch, ohne derart auf der Jubelwelle zu reiten, wie die Scorpions. Also sehens- und hörenswert.

Das Stück wird auf dem Oktober erscheinenden fünften Kettcar-Album „Ich vs. Wir“ zu hören sein. Die Band tourt 2022 übrigens. Mehr erfährt man hier.

Mehr zum Kettcar-Song „Sommer 89“:
Thomas André im Hamburger Abendblatt: „Wie Kettcar deutsche Geschichte in fünf Minuten erzählt
Auf SHZ.de: „Ein „Hörbuch-Song“: Neues Kettcar-Video wird zum Klick-Hit
Bei Noisey: „Kettcar melden sich ungewohnt politisch zurück



Ein Gedanke zu „Es war im Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“

  1. Danke, von dem Lied / Video habe ich gar nichts mitbekommen. Ist ein guter Denkanstoß. Interessant auch, dass es laut HH Abendblatt als Unterrichtsmaterial benutzt wird, das gefällt mir.

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